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Einleitung: Zu einer Kritik der 'Kritischen Theorie'

  > Anmerkungen - Einleitung

Eine Kritik der Philosophie der Frankfurter Schule lohnt sich auch heute noch, ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen der letzten Werke ihrer klassischen Vertreter. Erstens ist nämlich die Frankfurter Philosophie immer noch die - und soweit ich sehe, die einzige - Richtung im Bereich der akademischen Schulen, die sich immerhin bemüht, zwischen einer harmonisierenden metaphysischen Sinngebung der schlechten Wirklichkeit einerseits und einer positivistischen Verteidigung derselben andererseits hindurch zu kommen und sich einen rationalen Standpunkt der Kritik von Kultur und Gesellschaft zu erarbeiten. Mag sich die akademische Bedeutung der persönlichen Erben der Frankfurter Philosophie inzwischen auch mehr oder weniger auf den Wirkungskreis der betreffenden Lehrstühle zusammengezogen haben, mag auch Habermas in seinem Versuch, den methodologischen Ansprüchen seiner Kontrahenten zu genügen, der gegen den akademischen Gebrauch widerspenstigen Theorie Horkheimers und Adornos viel von ihrer Faszination genommen haben 1)‚ die Wirkung der kritischen Schule im deutschen Geistesleben ist ungebrochen. Neben der Diskussion an den philosophischen und soziologischen Seminaren hat die Bedeutung der Schule in der Germanistik und in den kunstwissenschaftlichen Fächern eher noch zugenommen - und, wenn man Martin Jay, dem noch von Horkheimer hochgelobten Historiker der Frankfurter Schule, glauben darf, dann gewinnt sie in den USA in den Vorlesungsverzeichnissen an Anhängerschaft mehr, als sie hier verlieren mag. 2) Der zweite Grund für eine Kritik an der Kritischen Theorie besteht darin, daß m.E. bis dato keine kohärente, den Zusammenhang der Frankfurter Philosophie treffende vorliegt. Das mag unbescheiden klingen, aber der Beweis für diese weitgehende Behauptung wird nicht schwer fallen. Zwar war die philosophische Diskussion in Westdeutschland in den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren keinem anderen Thema so verfallen wie der "Kritik und Interpretation der Kritischen Theorie", zwar versuchten Linke ihre eigenen Lehrer "weiter zu treiben", weil sie sie für ihre Politik benutzen wollten (und eher konservativ orientierte Wissenschaftler warfen ihnen entweder direkt oder vermittels zahlreicher Hegel- und Marx-Kritiken vor, sie seien Politiker statt Philosophen), aber von wissenschaftlichen Argumenten gegen die Frankfurter Philosophie kann kaum die Rede sein. Statt dessen hagelte es Vorwürfe, die den Gegner entweder nicht treffen, oder - weit entfernt davon, ihm seine Fehler vorzurechnen - ihn in Wahrheit ehren, oder beides zusammen. Die Vorwürfe verraten im allgemeinen mehr über den, der sie äußert, als über denjenigen, dem sie gelten. Die wichtigsten der "kritischen" Etiketten, die der Frankfurter Schule angehängt wurden, sollen hier kurz vorgestellt werden.

1.
Was ist zum Beispiel von dein Vorwurf zu halten, Adorno sei kein Marxist? Wer diesen Vorwurf äußert, stellt zunächst einmal sich selbst vor - er will Marxist sein, und zwar ein parteioffizieller. Um festzustellen, daß Adorno seiner Partei nicht angehörte, hätte es einer kritischen Schrift über "Sünden der Frankfurter Schule" nicht bedurft - was aber anders wird hier überhaupt festgestellt? Eines der besonders beliebten Argumente des "bürgerlichen" Wissenschaftspluralismus wird hier von einem seiner Gegner vorgebracht - und, wie es für diese Sorte Gegner charakteristisch ist, in seiner Unwissenschaftlichkeit auf die Spitze getrieben. Man rechnet einem Wissenschaftler, der offenbar andere Auffassungen hegt als man selber, den Verstoß gegen Grundsätze (methodologischer oder inhaltlicher Art) vor, die man selber wohl, der Kritisierte aber überhaupt nicht teilt. Dieses Verfahren ist etwa ebenso wenig der wissenschaftlichen Klärung von Sachfragen förderlich, wie der Vorwurf an einen Atheisten, er sei kein Katholik, oder der an einen Abstinenzler, er meide ja den Alkohol. Es ist ein Messen des anderen an einem Maßstab, der für ihn gar nicht gilt; die logische Form ist das Argumentationsschema des Juristen, der an jedermann den Maßstab des Gesetzes anlegt. Unser Vertreter des offiziellen Marxismus ist ehrlich genug, dieses juristische Vergleichen von Gesetz und Kasus sogar in seiner Wortwahl deutlich werden zu lassen:

"Der Marxismus billigt nicht die erkenntnistheoretische Abkapselung..." 3)

Konsequent entdeckt er als das Anliegen der kritischen Theorie, als ihren positiven Zweck, einen negativen, den Verstoß gegen seine, des Kritikers Auffassung - auch hier ganz analog zum Juristen, der den Gesetzesbruch für den wesentlichen Zweck des Diebstahls befindet und nicht die Beute:

"All dieses Gerede, dieses kritische und metakritische, manchmal zugegebenermaßen auch gegenkritische Gerede im Adorno-Deutsch mit der Unverbindlichkeit des Konjunktivs und den Satzbau-Schwierigkeiten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Grundinteresse, niemals zugegeben, obwohl erkannt, die Ausschaltung der Grundfrage der Philosophie ist und bleibt." 4)

An dieser Argumentationsweise ist zumindest eines auffällig: Wenn die angebliche "Grundfrage der Philosophie" - Idealismus oder Materialismus - wirklich alles entscheidet, wenn Marxist sein oder nicht wirklich über die wissenschaftliche Qualität der Theorien etwas aussagt, dann hätte es ein Marxist doch nicht nötig, dem Gegenstand seiner Kritik lediglich die Abweichung vom Kritiker vorzuwerfen. Dann dürfte er sich doch sicher sein, am Nichtmarxisten Fehler zu entdecken, die dieser gegen die eigenen, nicht gegen fremde wissenschaftliche Maßstäbe begeht. Wenn der Marxismus der "bürgerlichen" Wissenschaft überlegen ist, dann muß sich das natürlich ohne eine einzige Berufung auf die Autorität von Marx erweisen - die Anrufung des Ahnherrn verrät nur die eigene Schwäche, ebenso wie die Denkverbote, die unser Marxist an seine Leser erläßt, aus Angst, ihnen würden doch einzelne Analysen der Frankfurter Schule einleuchten:

"Eine marxistisch-leninistische Kritik an der gesamten Frankfurterei hat daher immer diese Globalentscheidung mitzubeachten. Es dürfen Einzelgedanken der 'Frankfurter Schule' nicht ohne Blick auf diese Grundkonzeption und deren 'Interesse' erkannt werden, mögen sie noch so blendend formuliert vorgetragen werden." 5)

2.
Auch ein Vorwurf, der seine Unhaltbarkeit nicht so offen zeigt - und der aus durchaus unterschiedlichen Richtungen vorgetragen wurde -‚ beruft sich lediglich auf ein verbreitetes Vorurteil: Die Frankfurter Philosophie sei abstinent gegenüber der gesellschaftlichen Praxis. 6)

Wird gegen einen Theoretiker der Vorwurf gerichtet, er sei kein Praktiker, so handelt es sich erneut um einen Versuch, ihn an einem Maßstab zu messen, der per se nicht der seiner Tätigkeit ist. Ein Theoretiker sollte eine gute Theorie machen, aufklären über die Natur der Gegenstände, die er erforscht. Ob dann eine verändernde Praxis not tut oder nicht, ob sie chancenreich ist oder ob sie sogar verderblich wäre, das alles sind Fragen, die gerade mit der Sachkenntnis erst zu entscheiden wären, die die Theorie vermitteln soll. Die "Verpflichtung" eines Theoretikers auf praktische Konsequenzen seiner Theorie mag ja noch angehen - aber eine solche Verpflichtung dreht sich nicht mehr um die Entscheidungen, die mit den Urteilen und der Stimmigkeit der Theorie zu tun haben.

Neben den Hinweis auf ihre Unangemessenheit ist dieser Kritik aber auch der Vorwurf der Unredlichkeit nicht zu ersparen. Solche Vorwürfe kommen ja beileibe nicht von Männern der Praxis, sondern von Leuten, die ihre Aufgabe darin sehen, Bücher und Aufsätze zu Verfassen, also wie der Angegriffene Theoretiker und nicht Praktiker sind. Tatsächlich reduziert sich dieser Vorwurf darauf, ein Theoretiker sei für die praktische Parteilichkeit, politische Richtung usw., der man sich selber zurechnet, nicht zu gebrauchen. Weil er etwas anderes tut, als man von ihm erwartet, tue er. "zu wenig', eigentlich gar nichts! 7)

Aber nicht nur von Gegnern der kritischen Theorie wurde die "Praxisferne" der Frankfurter Philosophen kritisiert. Ihre eigenen Schüler meinten, politische Aktivität aus den Analysen der Kritischen Theorie herleiten zu können. Verständnisvoll 8), appellierend 9)‚ fast bittend traten sie an Adorno heran und versuchten, ihn ihrer Loyalität versichernd, ihn zu einer Absegnung ihrer Politik zu veranlassen. Immer läuft dabei das Argument so, daß die engagierte studentische Politik doch nichts anderes sei als die einfache Konsequenz, nach der Adornos Kritik der schlechten Welt riefe.

"Adorno scheint zu übersehen, daß gerade sein eigener Ansatz, die 'Entzauberung' des Begriffs durch Nichtidentität, zwingend den Bezug auf Praxis und konkrete Gesellschaftstheorie fordert."

Und sein Konzept der totalen Integration, die auch das Unglücksbewußtsein tilge, wird mit dem Verweis auf die Realität gekontert:

\n"Daß immer noch Menschen durch Hunger und Napalm leiden, ist praktische, zum Himmel schreiende Nichtidentität, die konkrete Widerlegung der These absoluter Integration." 10)

Tatsächlich hat es diesen "objektiven Widerspruch in der Theorie Adornos" nie gegeben, den H. J. Krahl am Werke sieht und der "zum offenen Konflikt" drängte und "die sozialistischen Schüler zu politischen Gegnern ihres philosophischen Lehrers" werden ließ. 11) Das hätten die sozialistischen Schüler wissen können, wenn sie die Werke Adornos studiert und nicht ausgeschlachtet hätten, und das hätten sie wie am Werk auch am Leben dieses Philosophen ablesen können, für den sein Denken offenbar nicht im Gegensatz zu seinem Handeln stand. 12) Die Meinung, der Traum von Versöhnung werde desavouiert, wenn man nicht seine Realisierung betreibe, wird von Adorno leicht damit zurückgewiesen, daß der Traum von der Versöhnung eben ein Traum sei. Die politischen Schüler können sich noch nicht einmal ernsthaft auf ihre halbherzige Unterstellung und Entschuldigung berufen. Adorno habe in puncto Praxis eine wichtige Konsequenz seiner Theorie aus den Augen Verloren, schlicht nicht berücksichtigt - er hat sich nämlich sehr klar, sehr verständnislos und höchst "praxisfeindlich" ausdrücklich "für" und gegen seine politischen Schüler geäußert. 13)

3.
Der Vorwurf der Praxislosigkeit tritt auch in einem anderen Gewand auf; während H. J. Krahl noch "Das Elend der kritischen Theorie" im "Fehlen der Organisationsfrage" 14) erblickt, wird von anderen "Schülern" Adorno einfach vorgehalten, er könne mit der Realität nichts anfangen. Seine Praxislosigkeit sei Ausdruck einer zu großen Radikalität, der er sich schuldig mache, wenn er sich nicht am allgemeinen Geschäft beteilige, immer und überall noch Möglichkeiten der Verbesserung zu entdecken.

"Die bestehenden Normen werden insgesamt verworfen, zugleich aber auch die Möglichkeit positiver normativer Aussagen geleugnet. Damit aber ist die Möglichkeit rationaler Diskussion der in Frage stehenden Normen, ebenso der Praxis, prinzipiell bestritten. Wo ich nicht bereit bin, praktische Lösungen vorzuschlagen und normativ zu begründen, kann ich nur noch resignativ auf die Utopie verweisen oder allenfalls über die philosophische Begründung meiner Haltung diskutieren. Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, ob die Theorie etwa Normen deduzieren kann, sondern allein darum, ob sie überhaupt einen Beitrag zur Lösung von Problemen leisten kann, gleichgültig ob es sich um bescheidene Reformen oder um die prinzipielle Umwälzung der gesellschaftlichen Struktur handelt. " 15)

Was, wenn Adorno recht hätte, wenn die "prinzipielle Umwälzung" ohne Chance wäre und die "bescheidene Reform" nur dazu diente, daß die kritisierte Gesellschaft weiterhin funktioniert, ohne daß für die Menschen etwas dabei herausspringen würde? Es geht hier nicht um die Klärung dieser sachlichen Frage, sondern darum, den Dogmatismus klar zu machen, der sich hier zeigt, wenn man Adorno nicht Fehler, sondern einfach seine Resultate verhält und feststellt, so etwas dürfe es nicht geben; wer Normen kritisiere, habe neue zu erstellen - Kritik dürfe nicht nur kritisch, sie müsse auch aufbauend sein. 16)

In diesem Anwurf treffen sich reformerisch gesonnene Kritiker mit Philosophen, die eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind - auch diese stellen fest, daß ein Kritiker auch Vorteile, Möglichkeiten und günstige Bedingungen am Gegenstand seiner Kritik zu entdecken habe. O. K. Kaltenbrunner, der erklärtermaßen andere Sorgen als die Beförderung einer sozialistischen Revolution hat, greift in seiner Marcuse-Kritik zu diesem Argument -

"Damit berühren wir bereits die zweite crux seiner sozialkritischen Überlegungen. Marcuse ist, wie er selbst zugibt, nicht imstande, 'die befreienden Tendenzen innerha1b der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen. " 17) -

um so den Übergang zum Terror zu finden, für den er die Frankfurter Schule deswegen verantwortlich machen will, weil sie sich so außerordentlich negativ zur Realität verhalten habe, an die man sich doch halten müsse. 18)

4.
Es fällt nicht leicht, Kritiken an der Frankfurter Philosophie zu finden, die wenigstens nicht auf den ersten Blick die politische Absicht und theoretische Gleichgültigkeit ihrer Urheber verraten. Die innerwissenschaftlichen Argumente, die anläßlich des "Positivismusstreits" in der deutschen Soziologie zwischen den Frankfurtern und Vertretern des Kritischen Rationalismus ausgetauscht wurden, bezogen sich kaum auf die inhaltlichen Analysen, die die eine wie die andere Seite schon vorgelegt hatte. Es war eine methodologische Kontroverse, die Prinzipien diskutierte, an die Wissenschaft sich halten solle, die deswegen auch Fehler, die wirklich begangen wurden, nie berücksichtigte, sondern das Problem der Beweisbarkeit jener methodologischen Grundsätze zum Thema hatte. Der Vorwurf von jeder Seite gegen die andere hieß deswegen: "Dogmatismus" - die andere Seite huldige Prinzipien, deren Geltung sie nicht jenseits der Befolgung derselben beweisen könne. Es ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung, daß methodologische Prinzipiendiskussionen unweigerlich in diese argumentative Verlegenheit geraten, weil sie sich schon im ersten Schritt von der Wissenschaft entfernen, deren inhaltliche Schlüsse entscheidbar sind - im Unterschied zu ihren "Bedingungen der Möglichkeit" jenseits der wirklichen Argumente, die einer derartigen Grundlegung auch gar nicht bedürfen. 19) Hier interessieren die Beweise, mit denen die Kritiker ihren Dogmatismusvorwurf an die Frankfurter belegten.

Die einfachste Form dieses Vorwurfs ist der der Unk1arheit. Sie sagten nicht genau, was sie wollten, und würden dadurch - daß der Leser nicht so recht wisse, worum es geht - ihre Auffassung ohne die Gefahr einer kritischen Prüfung durchsetzen. 20)

"Habermas zieht es vor, festzustellen, daß der dialektische Begriff des Ganzen die Grenzen formaler Logik überschreitet, 'in deren Schattenreich Dialektik selber nicht anders erscheinen kann denn als Schimäre'. Aus dem Kontext, in dem dieser Satz erscheint, darf man wohl darauf schließen, daß Habermas die Möglichkeit bestreiten will, seinen Begriff der Totalität logisch zu analysieren. ... Wer über genügend Mißtrauen verfügt, wird darin eine Immunisierungsstrategie erblicken, die in der Erwartung gründet, daß der Kritik entgehen mag, was sich der Analyse entzieht." 21)

Es soll nicht geleugnet werden, daß es schwer und leicht verständliche Texte gibt; auch nicht, daß Vertreter der Kritischen Theorie es bisweilen explizit ablehne; zu definieren; aber daß man deswegen nicht wissen könne, was sie meinen, ist falsch. Man muß sich eben die Mühe machen, zu suchen, welche Bestimmungen den noch nicht definierten Termini im Laufe der Erörterung gegeben werden. So wenig er es wahrhaben will, auch Hans Albert, von dem dieser Angriff stammt, hat sich durch seine Lektüre von Habermas dieses Wissen erworben, 22) von dem er behauptet, es werde ihm vorenthalten. Er verwendet seinen eigenen Unwillen, sich auf die Gedanken einzulassen und sie immanent zu kritisieren, - Gedanken, die er sehr wohl versteht - als Urteil über sie.

Die Habermas unterschobene Immunisierungsstrategie, die auf ein Stück Manipulationstheorie zurückgreift, operiert einerseits mit der wenig wissenschaftlichen Methode der Verdächtigung und ist andererseits ebenso haltlos wie alle Manipulationstheorie. Auch Habermas könnte nicht hoffen, in der Welt der Wissenschaft dadurch Anhänger zu gewinnen, daß er ihnen nicht sagt, worum es ihm geht. Durch Verheimlichung und Unklarheit wird niemand begeistert, er wüßte ja gar nicht wofür!

Ein weiteres Beispiel für die theoretische Kritik an der Frankfurter Methodologie mag der ebenfalls von Albert entdeckte Mangel an empirischer Überprüfung bieten. 23) Ganz abgesehen davon, daß dieser Vorwurf die gleiche logische Struktur aufweist wie der, Adorno sei kein Marxist - es ist doch kein Wunder, daß die "Dialektiker" den methodologischen Regeln der "kritischen Rationalisten" nicht entsprechen, andernfalls wäre es ja nie zu dem Methodenstreit gekommen, innerhalb dessen die Differenz zum Argument gemacht wird -‚ also abgesehen von der Zwecklosigkeit eines solchen Vorwurfs muß kurz darauf hingewiesen werden, daß er auch unberechtigt ist. Eine Theorie erklärt Fakten; die Sicherung der Fakten, ihre eventuelle Unterscheidung von Einbildungen gehören vor die theoretische Arbeit. Bringt die Theorie nun eine stimmige Erklärung zustande, dann versteht sich die "Übereinstimmung" mit den Fakten von selbst. Über die Wahrheit oder Unwahrheit der Theorie sagt ein "Vergleich" von Gedanken und Sache herzlich wenig, zumal trotz der Beliebtheit des Arguments, erst ein solcher Vergleich garantiere im günstigen Fall sicheres Wissen, niemand so recht sagen kann, wie er vorzunehmen ist. 23a) Wissenschaftliche Erklärungen bestehen ja gerade im Nachweis der Notwendigkeit eines bloß faktisch festgestellten Zusammenhangs (z.B. es donnert immer, wenn es blitzt); der Rückbezug der Erklärung der Notwendigkeit auf die bloße Faktizität eines Zusammenhangs kann zur Gewißheit der Erklärung nichts beitragen. 23b)

So trägt Hans Albert lediglich sein - noch dazu falsches -Vorurteil über das angemessene Verfahren der Sozialwissenschaft als ein Hauptargument der Kritik an der Kritischen Theorie vor.

Am ehesten trifft noch die Kontroverse "Dialektik gegen formale Logik" einen Punkt, auf den sich beide Seiten irgendwie verpflichten lassen, Obwohl auch diese Formulierung nur Ausdruck des Gegensatzes von Frankfurter Schule und kritischem Rationalismus ist, nicht ein Argument für oder wider, ist bemerkenswert, daß immerhin dieser Angriff auf die Kritische Theorie einige Wirkung hatte. Habermas wollte sich doch nicht umstandslos von der Verpflichtung des Denkens auf Widerspruchslosigkeit freimachen. 24) Trotzdem, was hat man eigentlich aus dieser Kontroverse gelernt, sei es über Dialektik, sei es über formale Logik oder über ihren Gegensatz? Mit großem Nachruck wurde mitgeteilt, daß offenbar beide Parteien einen Gegensatz sahen. Willy Hochkeppel trägt Adorno-Zitate gegen die formale Logik zusammen und ist sich sicher, daß diese Reportage schon Kritik genug wäre.

"Freilich ist Rationalität für Hegel-Anhänger ein anderes Ding als für diejenigen, die sich sonst darauf berufen. Sie ist vernunftdurchwebt und springt mit der Logik, auf die sie schwerlich verzichten kann, auf eigene Weise um." 25)

Sodann einige der "wahrhaft unglücklichen Invektiven Adornos gegen die Logik":

"Da poltert Adorno gegen die 'losgelassene Logik' und ihren 'Zwangscharakter', dort stellt er höhnisch den 'Primat der Logik' in Frage, schnaubt gegen ein 'fetischisierte(s) Prinzip immanenter Logik' und versteigt sich zur Floskel von der 'logische(n) Höllenmaschine'. In seinen Augen wird Logik zu einer 'Doktrin, deren oberste Norm Widerspruchslosigkeit heißt', ... einem 'Gefängnis', das keine 'Fenster' hat."

Das war nun aber kein Bericht von Hochkeppel, sondern Kritik, denn er fährt fort:

"So außer Kontrolle geraten, konnte Adorno nicht mehr annehmen, daß man seine folgende Versicherung noch ernst nimmt: 'Die Kontamination von Dialektik und Irrationalismus stellt sich blind dagegen, daß Kritik an der Logik der Widerspruchslosigkeit diese nicht außer Kurs setzt, sondern reflektiert.' Dergleichen verträgt sich nur schlecht mit dem Diktum von der 'logischen Höllenmaschine'. Wer 'reflektiert' schon gerne eine Höllenmaschine?" 26)

Daß Adorno meint, Einwendungen gegen die Logik vorbringen zu können, genügt völlig, um ihn zu disqualifizieren. Daß er andererseits auch beteuert, sie nicht "außer Kurs" setzen zu wollen, wird einfach als unglaubwürdig abgetan; daß er sich schließlich diesen Widerspruch leistet, einerseits die Logik als Zwang gegen das irgendwie freie Denken zu brandmarken und andererseits sich doch an sie halten zu wollen, wird triumphierend vom Kritiker hochgehalten, und das gegen einen Theoretiker, der selber längst vor seinem Kritiker betont hatte, daß man ihn nicht auf Widerspruchsfreiheit festzunageln brauche, er halte sich sowieso nicht daran - welch kritischer Erfolg! Statt zu klären, was Dialektik bei Adorno heißt, statt mitzudenken, um zu erfahren, was einen Denker bewegt, der sich nicht mehr an die Logik halten will und doch nicht auf sie verzichten kann, wenn er andere überzeugen will; statt all dessen ist man mit Adorno fertig, noch ehe man ihn recht zur Kenntnis nimmt. In Wahrheit ist das Urteil der Kritiker auch hier - obwohl sie hier offenbar einen heiklen Punkt der kritischen Theorie trafen - nicht: dieser Denker verstößt gegen seine eigenen Gedanken usw., sondern: er verstößt gegen unsere Prinzipien. Von diesem Bemerken einer Differenz hat allerdings niemand etwas - der Kritisierte nicht, zumal die Differenz für ihn keine Neuheit sein dürfte; ein neutraler Leser nicht, weil er im Pluralismus ja etwas sucht, woran er sich halten kann, was ihm neue Erkenntnisse vermittelt, nicht einfach Vielfalt, - die kennt er schon; und selbst die eigenen Anhänger müßten die Schwäche bemerken, die in einer solchen Aufrechnung der Differenzen zum Vorschein kommt, bei der sich keine Seite den Gedanken der anderen mitzudenken traut.

Hervorzuheben ist an dieser Art der Kritik noch die wirklich unqualifizierte Charakterisierung der Dialektik, mit der da operiert wird. Deutsche Philosophen, die ungeniert über Hegel und seine 'Logik' höchst abfällige Urteile sprechen, machen den Eindruck, als hätten sie sich allesamt über Dialektik bei Karl Popper, 'Was ist Dialektik' unterrichtet, während dieser seinerseits sich nur bei Engels erkundigt zu haben scheint. Wer Dialektik für eine Methode hält, wer sie noch dazu mit dem berühmten und zurecht berüchtigten Dreischritt in eins setzt, wer schließlich behauptet, Hegel sei dafür eingetreten, daß man sich um Widersprüche bei der Argumentation nicht zu scheren brauche‚ 27) der darf sich - wie in der vorliegenden Untersuchung noch deutlich werden soll - wirklich nicht zum Richter über Hegel aufschwingen.

Zudem aber unterschiebt sich bei Popper der Kritik an dem, was er für Dialektik hält, eine ganz andere, die am Objektivitätsanspruch des Denkens. Hegels Feststellung, daß die Bestimmungen des Denkens die seiner Gegenstände sind - eben nur eine Umformulierung der Objektivität -‚ nimmt Popper als Begründung und haltlose idealistische Spekulation: "weil die Welt geistgleich ist." 28), die sich selbst widerlegt, um mit einem Appell zur Bescheidenheit in Sachen philosophischen Denken aufzurufen:

"Die ganze Entwicklung der Dialektik sollte als Warnung dienen gegen die dem philosophischen Systembauen inhärenten Gefahren. Sie sollten uns daran erinnern, daß die Philosophie nicht zur Grundlage für irgendwelche Arten wissenschaftlicher Systeme gemacht werden darf und daß die Philosophen in ihren Ansprüchen viel bescheidener sein sollten." 29)

Damit sind wir erneut im Bereich der politischen Ge- und Verbote an die Theorie angelangt.

Hier am Rande ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit des Dogmatismus-Vorwurfs, wie er bei Popper auftritt. Abgesehen von dem schon erwähnten Umstand, daß erkenntnistheoretische Bemühungen in präskriptiver Absicht ohnehin in willkürlichen Vorschriften an die Wissenschaft resultieren müssen - (das gilt für Erkenntnistheorie in erklärender Absicht nicht, sie geht von der Wirklichkeit der Wissenschaft aus und gibt das Moment der Notwendigkeit des stattgehabten Denkens an) -‚sind zweierlei Arten von Dogmatismus zu unterscheiden, die der kritische Rationalismus stets vermischt, um mit der unrationellen die vernünftige zu diskreditieren. Während es offensichtlich das Ende der Vernunft und Wissenschaft ist, wenn eine Seite im argumentativen Streit auf die Autorität einer Person oder Lehre verweisen muß, weil sie nicht mehr überzeugen kann, ist das Festhalten an Einsichten, für die argumentiert wurde und die (noch) nicht stichhaltig widerlegt sind, nichts als die Konsequenz des Denkens. Der Antidogmatismus Poppers richtet sich leider nicht, jedenfalls nicht nur gegen das argumentationslose, also autoritäre Festhalten einer Einsicht schlechthin - und nennt es dogmatisch. Er will, was man mit Argumenten, die ja nicht festgehalten werden dürfen, nicht kann: ein bleibendes Mißtrauen ins Denken überhaupt säen. Ein Standpunkt aber, der gegen das Denken kritisch ist, bezieht seinen festen Halt, seine Gewißheit von einer Sicherheit, die nicht durch Denken gestiftet sein kann, sondern von einer Sphäre jenseits desselben herkommt.

5.
Wie Popper bezichtigt auch Werner Becker Marx und die Marxisten, zu denen er wiederum die Frankfurter Schule ohne weitere Einschränkung rechnet, einer "irrationalen Überschätzung menschlicher Vernunft und Wissenschaft" 30),

"Obwohl 'bürgerliche Wissenschaft' und Marxismus sich gegenseitig als feindliche Brüder einschätzen, haben sie in vergleichbarer Weise den Glauben an die wissenschaftliche Machbarkeit der Politik gefördert." 31)

Nicht nur die ohnehin kritisierten Marxisten, auch noch große Teile des eigenen Lagers haben sich der Überschätzung der Vernunft schuldig gemacht, und das führt dazu, daß an die politische Praxis vernunftmäßige Maßstäbe angelegt werden. Dies, meint Becker, sollte man ihr ersparen. Im politisch-praktischen Leben solle man sich besser an etwas anderes halten als an seinen Verstand - als ob der Mensch beliebig viele Instanzen hätte, mit denen er entscheiden könnte, was ihm frommt und was nicht.

6.
Derselbe inhibitive Gedanke wird von Willy Hochkeppel aufgegriffen, der der Philosophie schlechterdings jeden praktisch bedeutsamen Schluß mit dem Argument verbieten möchte, daß eine praktische Konsequenz der Theorie eine nicht mehr, eine außer theoretische Angelegenheit sei. Diesen Satz kann man zwar nicht bestreiten, aber ein Verstoß gegen Theorie liegt in ihrer praktischen Konsequenz andererseits auch nicht vor.

"Wenn Theorie primär und naturgemäß ein - geistiges - Anschauen ist, Distanz also für sie konstitutiv sein muß, dann ist die Aufhebung der Philosophie durch ihre 'Verwirklichung' Legende und Utopie. Denken und Handeln bleibt ewig disparat. Die Rede von Primat praktischer Philosophie entspringt mehr oder weniger einer Ungeduld, die den Erkenntnisprozeß nicht nur abkürzen sondern in außertheoretische Bahnen lenken möchte." 32)

Wer dagegen die Theorie nicht nur bei ihrem eigenen Gang, sondern auch nach erreichtem Resultat immer wieder in innertheoretische Bahnen lenkt, verurteilt sie zum bloß erbaulichen Räsonnement. Hochkeppel strebt eine solche Philosophie an, weil er mit der vernunftlosen Praxis, die allenthalben getrieben Wird, hinreichend einverstanden ist und von der zersetzenden" Vernunft nur fürchtet, Nachdenken könne das Funktionieren des Treibens stören:

"So sind auch, wo praktische Philosophie versagte, unzählige Generationen von Menschen zur schlichten Tat geschritten - die Anweisungen der Philosophie haben seit Menschengedenken versagt. Religionen, Aberglauben, Ideologien und obskure Weisheitslehren und die schlichte Praxis selbst haben unterdes der Menschheit die Werte und Leitbilder geliefert, deren sie nun einmal bedurfte. Das Geschäft der Philosophie bestand bislang vorzüglich darin, solche Dogmen und Normen in Frage zu stellen und zu ersetzen ...‚ ohne indes eigene, gesicherte Regulative an deren Stelle setzen zu können." 33)

Die Menschen brauchen demgemäß Normen und Leitbilder und keine Vernunft, zumal dann nicht, wenn diese nicht neue Leitbilder liefert! Am klarsten spricht Hermann Lübbe den Zusammenhang von Objektivitätsvorbehalt, Praxisverbot und unverhohlener Verteidigung der herrschenden gesellschaftlichen Zustände aus, die offenbar auch seiner Meinung nach eine analytische Durchleuchtung schlecht vertragen würden. Sein Argumentationsstrang, der immer wieder mit Spitzen gegen die Frankfurter Schule gespickt ist, die er als Gegenaufklärung bekämpft, soll ausführlicher dargestellt werden.

Lübbe will "Philosophie als Aufklärung" 34) betreiben und sieht seine Aufgabe darin, vor der Gegenaufklärung zu warnen:

"Prozesse der Gegenaufklärung sind Prozesse anwachsenden Bekenntniszwangs und sich ausdehnender Kritikverbote." 35)

Anstatt nun aber gegen Bekenntnisse Argumente zu fordern und sich um Kritikverbote, die er 1972 allerorten erlassen sah, nicht zu scheren, fordert er seinerseits von den Philosophenkollegen ein Bekenntnis zu seinem Kritikgebot: man hat Kritik gefälligst auf die von Meinungen einzuschränken und die Realität in Ruhe zu lassen.

"Die Aufklärungsfunktion der Philosophie erfüllt sich primär in der Kritik des Geltungsanspruchs institutionalisierter Texte." 36)

Die Objektivität, oder die Wahrheit einer Schrift ist nicht im Einzelfall zu prüfen, damit man zum abschließenden sicheren Urteil gelangt, sondern sie ist für jeden Fall generell abzustreiten (Was würde Lübbe wohl zum Geltungsanspruch seines eigenen Aufsatzes sagen?).

"Natürlich liegt es nahe zu fragen, ob die Kritik, die in Aufklärungsabsichten besorgt wird, sich nicht über institutionalisierte Texte hinaus auch auf andere Institutionen, geltende Normen, herrschende Zustände usw. erstreckt." 37)

Aber diese Frage wird eindeutig verneint 38)‚ und zwar deswegen, weil die Realität einer Kritik weder zugänglich ist, noch ihrer bedarf. Denn die Realität ist und gilt, sie kann und braucht nicht begründet zu werden!

"Aufklärung ... übersieht selbstverständlich nicht, daß jedem politischpraktischen Entscheidungs- und Handlungszusammenhang Prämissen zugrunde liegen ... In Kenntnis dieser ihrer Geschichte läßt sich ihr Handeln 'verstehen', und die Kritik (Pseudonym der Frankfurter Schule, der Verf.) macht demgegenüber lediglich geltend, daß die historisch-genetische Identität von Subjekten, die ihr Handeln verständlich macht, dieses Handeln, sofern überhaupt nötig, doch nicht rechtfertigen und begründen kann. Wir sind, wer wir sind, und solange wir uns nicht aufgeben, das heißt uns zu behaupten aufgeben, schließt das potentiell die Not (politischer) Selbstbehauptung gegen andere ein. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, in der Unumgänglichkeit zu sein, was man nun einmal ist, den objektiven Sinn unserer jeweiligen geschichtlichen Existenz zu erblicken. Das kann man so nennen. Aber es ist nicht erkennbar, welche Verbindlichkeiten durch die hermeneutische Präsentation dieses 'Sinns' sollte begründet werden können. ...

Das Ganze unserer geschichtlichen Existenz, unsere 'Identität' ist auf diese praktisch argumentierende Weise einer Begründung ihrer 'Vernünftigkeit' weder fähig noch bedürftig..." 39)

Außer dem fragwürdigen Argument, daß die "herrschenden Zustände" immer und von vornherein die 'Identität' der ihnen Unterworfenen ausmachen, bietet Lübbe der Kritik keine Angriffsflächen, denn er gibt ja nur seinen Entschluß bekannt, sich selber und seine 'Identität', die mit den 'herrschenden Zuständen' "harmoniert", gegen Kritiker zu behaupten - und zwar nicht, weil sie nicht recht hätten, sondern weil angesichts der doch offensichtlichen praktischen Geltung der 'Normen' der herrschenden Zustände sowieso jedes Argument für oder wider völlig fehl am Platze sei. Den Grund für eine derart unangemessene Arroganz, die Realität beurteilen zu wollen, sieht Lübbe im immer noch nicht völlig außer Mode geratenen Wahrheitsanspruch der Philosophie:

"Institutionalisierte Texte von Theoriegestalt sind Dokumente eines politisch und schließlich moralisch fixierten Interesses, daß die Wirklichkeit so und nicht anders sei. Mit dieser Formulierung ist nicht gemeint, daß diese Texte den Willen zur Konservierung des Bestehenden repräsentieren." 40)

"Kanonisierte Theorien repräsentieren den Anspruch, in Theorie und Praxis davon auszugehen, daß Tatsachen diese und keine anderen sind, und sie statten das so bestimmte Sosein der Realität mit politischer und moralischer Verbindlichkeit aus." 41)

"Gegenüber der neoorthodoxen Interessiertheit, der Wahrheit eine inhaltlich fixierte Geltung zu verschaffen, ist Philosophie in ihrer Funktion als Aufklärung die Kultur des Desinteresses am Sosein der Wirklichkeit." 42)

Offener läßt sich ein Bekenntnis zum Verzicht auf eine vernünftige Beurteilung der Welt wohl kaum vorbringen.

7.
Als letzten Einwand gegen die Kritische Theorie wollen wir noch einmal die Überlegungen Hans Alberts untersuchen, des Mannes, der sich so lange geduldig und den wissenschaftlichen Verkehrsformen entsprechend mit Habermas auseinandersetzte. Bei ihrem Positivismusstreit, bei dem man so wenig die gegenseitigen Intentionen traf, ging es noch der Form nach innerwissenschaftlich zu. Das Resümee jedoch, das Hans Albert gibt, zeigt die wirklichen, eben leider nicht sehr theoretischen Gegensätze zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus und rechtfertigt ironischerweise voll den Positivismusvorwurf, bei dem Hans Albert sich immer so mißverstanden fühlte. Im "Schluß"-Kapitel seines Buches 'Konstruktion und Kritik' spricht Albert deutliche Worte. Zunächst - und ganz im Sinne der schon erwähnten Autoren - betont er, daß die moderne Wissenschaftstheorie nicht mehr an die Objektivität und Unvoreingenommenheit des Denkens eines jeden Wissenschaftlers (das Gegenteil wäre ihm nachzuweisen!) glaube und daß der Irrationalismus heute im Rechnen auf die ratio bestehe. Dann tritt er zum Beweis an, daß kritische Theorien, wie die der Frankfurter Schule, nicht Wissenschaft, sondern Glaube, Theologie sind.

"Es ist nun nicht uninteressant, daß das Freund-Feind-Denken engagierter Wissenschaft historisch in einer philosophischen Tradition verwurzelt ist, die ... mehr oder weniger ausdrücklich echt theologische Denkmotive und Modelle fortführt, so daß man mit Bezug auf sie von einer Fortführung der Theologie mit andern Mitteln sprechen konnte." 43)

Damit ist nun aber auch schon der Beweis erbracht - über eine Analogie: es gibt in den theologischen Systemen etwas, z. B. Freund-Feind-Unterscheidung, was auch bei den Frankfurtern gefunden wird. Die Formulierung "Fortführung der Theologie mit andern Mitteln" verrät sich selbst, denn Theologie und Wissenschaft unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer Sichtweisen der Gegenstände, aber nicht in den Gegenständen selber (man kann auch theoretisch bestimmen, was 'Gott' und Glaube sind!); in der Argumentation macht sich die unterschiedliche Sichtweise in verschiedenen Mitteln der Überzeugung geltend, nämlich einmal in Gestalt von Gründen und das andere Mal als Versprechen der Erleuchtung und Erlösung im Falle vorausgesetzten Glaubens. Insofern ist die "Fortsetzung der Theologie mit andern Mitteln" eben Nicht-Theologie. Albert stellt nun die gute Frage: "Wie sieht nun dieser ideologische Denkstil aus?" und beantwortet sie schlecht:

"Aus den Bedürfnissen einer globalen sinnhaften Deutung des historischen Geschehens ergibt sich ein auf die soziale Praxis bezogenes Denken in radikalen und totalen Alternativen, die mit positiven oder negativen Wertakzenten versehen werden. Dieser Alternativ-Radikalismus führt dazu, daß der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft als Ganzes - das 'Gegebene', das 'System', der 'Spätkapitalismus' oder wie immer man ihn bezeichnen mag - auf dem Hintergrund eines im allgemeinen sehr vage skizzierten utopischen Idealzustandes als von Grund auf schlecht und verdammungswürdig denunziert wird." 44)

Albert interessiert sich offenbar, wie er schon angekündigt hatte, nicht für die Mittel, sondern für die Resultate des "ideologischen Denkstils". Fragen wie "ist der 'gegenwärtige Zustand der Gesellschaft' 'Spätkapitalismus' oder nicht, ist der Zustand, etwa gar 'als Ganzes' 'verdammungswürdig' oder nicht?" - interessieren ihn nicht. Für ihn ist allein der Umstand, daß die Gesellschaft als Ganzes beurteilt und "verdammt" wird, Anzeichen genug für "ideologischen Denkstil" - offenbar weil für unideologisches Denken eines immer schon feststeht: man hat nicht dagegen zu sein. Albert führt seine Überlegungen fort in der Entdeckung weiterer Parallelen:

"In allen Versionen dieses geschichtstheologisch geprägten Denkens kommt aber in mehr oder weniger starkem Maße die Hoffnung auf die große Wende, auf die reinigende Katastrophe, und damit ein Erlösungsdogma eschatologischen Charakters zum Ausdruck, wie es schon in den frühen millenarischen und messianischen Bewegungen eine so bedeutende Rolle gespielt hat. Der Übergang in den herbeigesehnten Heilszustand: das Reich der Freiheit, die klassenlose Gesellschaft, die vollkommene Gemeinschaft oder das dritte Reich" (auch ein bißchen Faschismusverdacht ist salonfähig) "macht die Zerstörung der alten Ordnung notwendig." 45)

Wer grundsätzliche Veränderungen für nötig hält, ist irrational, denn vernünftig ist es, davon auszugehen, daß, grundsätzlich wenigstens, immer alles beim Alten bleibt.

Ist die Philosophie denn nur noch Magd der Politik? So möchte man sich angesichts dieser Kontroverse fragen. Hier werden schlecht verhüllt politische Differenzen in Form einer philosophischen Kontroverse verhandelt, ohne daß die philosophische Eigenart der Frankfurter Schule überhaupt zur Sprache kommt. Willkürlich picken sich ihre Kritiker die Punkte heraus, die ihnen - nicht im System der kritisierten Philosophie, sondern nach Maßgabe ihrer, dieser Philosophie gar nicht eigenen Prioritäten - bedeutend erscheinen. Ein Eindringen in den inneren Zusammenhang der Gedanken, eine Entdeckung der Argumentationsfehler ist dazu nicht vonnöten, ja wäre direkt hinderlich für die Absicht, alle Gedanken des Gegners als taktische, also gar nicht sehr ernst gemeinte Mittel zur Stützung und Verteidigung der Sünde darzustellen, die man dem Kritisierten als politischen Zweck, den man nicht teilt, vorzurechnen gewillt ist. Ob es sich dabei um den Vorwurf handelt, die Frankfurter Philosophie bringe es nicht zur Bestimmung verändernder Praxis, oder um sein Gegenteil, sie beurteile die Realität, schwinge sich also zum Richter über sie auf, was der Anfang der Revolution sei, in jedem Falle sind die Gründe und Zusammenhänge, aus denen heraus die Kritische Theorie zu genannten "Versäumnissen" kommt, höchst uninteressant angesichts dessen, daß der Kritiker diese Forderungen an die fremde Theorie zu stellen beliebt. Leider teilen praktisch alle Kritiker nur mit, was sie bei der Lektüre von Adorno und Horkheimer bewegt; was die Autoren der kritisierten Werke bewegt hatte, wissen die Kritiker nicht, weil sie sich nie dafür interessierten. So hart es klingen mag: wissenschaftliche Kontroversen hierzulande haben bisweilen mehr als nur eine formelle Ähnlichkeit mit den reichlich inkriminierten Prozeduren im Osten; Kritik wird zur reinen Entdeckung der Differenz, der andere Theoretiker blamiert sich vor dem einen damit, daß er zu anderen Resultaten kommt als der eine. Kritik wird zum Vergleich, und jeder stellt beim anderen 'Abweichlertum' fest. Harmloser als im Osten, damit aber zugleich entschieden lächerlich, ist diese Methode der Kritik deswegen, weil nicht ein mit Gewalt ausgestattetes Zensurbüro Abweichung und Linientreue festmacht, sondern jeder Philosoph gegen jeden: Diese Kritik mit Hilfe des Vergleichs bringt es zustande, daß jeder ein Ketzer und Häretiker im Licht des anderen ist - und vice versa.

Es fehlt am Willen zur Philologie. Es ist anscheinend unüblich, sich selbst das System einer anderen Philosophie zu erarbeiten - was auch dann unerläßlich ist, wenn sie wie die Frankfurter behauptet, sie sei keines.

Auch in einer solchen Philosophie gibt es den Zusammenhang der vielen Urteile; auch einer, der behauptet, er denke unsystematisch, läßt sich die Reihenfolge seiner Argumente, seine Gründe nicht kriterienlos einfallen. Diese Spuren wären zu verfolgen, der leitende Gedanke herauszufinden und so der "Standpunkt" dieser Philosophie allererst einmal zu entdecken.

Man könnte auch sagen, es fehlt der Wille, eine Theorie wirklich zu verstehen - womit wir nicht das heute geläufige hermeneutische 'Verstehen' meinen. Jenes Verstehen hat nämlich wenig mit Billigung zu tun, viel dagegen das hermeneutische, welches behauptet, man könne anderes nur auf dem Hintergrund schon bekannter eigener Normen, Zwecke etc., die man befolgt, also praktisch teilt, "verstehen". 46) Das wirkliche Verständnis einer Theorie ist keines für sie, und es schließt ihre Verurteilung nicht aus; es nimmt lediglich für sich in Anspruch, daß auch Kritik an einer Philosophie eine philosophische ist und nicht eine apriorische politische Polemik. Ein im Resultat politisches Urteil ist nur statthaft, wenn es aus einer philosophischen Beschäftigung mit dem philosophischen Gegenstand begründet wird.

Um diese Differenz noch deutlicher zu machen, sei kurz auf die Autoren eingegangen, denen eine philologische Beschäftigung mit den klassischen Autoren der Kritischen Theorie nicht abgesprochen werden kann. Es sind die philosophischen Schüler. In den Arbeiten, die unmittelbar dem Schaffen ihrer Lehrer gewidmet sind, übernehmen sie die Aufgabe der Verteidigung gegen Angriffe. Habermas trägt die Hauptlast der Gegenkritik im Positivismusstreit 47), Hermann Schweppenhäuser tritt für Adorno gegen Thomas Härting 48) an, und beide, zusammen mit Alfred Schmidt und Ulrich Sonnemann 49) bilden die Phalanx gegen die politische adornosche Linke, gegen die sie die Praxisabstinenz in Schutz nehmen.

Diese Autoren kennen und verstehen ihre Lehrer, auch der "Standpunkt" dieser Philosophie ist ihnen geläufig - es ist weitgehend ihr eigener. Um einmal einen Frankfurter Ausdruck zu gebrauchen, sie haben ihn "innerviert". Doch damit ist auch ihre Schwäche bezeichnet: sie interpretieren die einschlägigen Lehren, beurteilen sie aber nicht! Man muß ihnen leider, besonders Schweppenhäuser, den Vorwurf machen, daß sie ihrerseits die Kontroverse nicht besser führten, als die Gegner der Frankfurter Schule. Da entlarven sich die Kritiker Adornos umgekehrt als genau das, was Adorno immer schon sagte, da wird das Aufrechnen der Differenzen umgekehrt betrieben, und den geistigen Zusammenhang ersetzt wiederum eine - nicht sehr faire - Methode der psychologischen Verdächtigung. Die Gegenkritiken führen - mit vielen Zitaten - Adornos Position noch einmal vor, anstatt anläßlich der Kritik bestimmte Punkte neu, klarer, vielleicht auch richtiger zu bestimmen. Auch dort, wo nicht das fleißige Zitieren die Argumentation trägt, hört man bis in den Wortlaut hinein nur die Wiederholung Adornos. Da werden ebenfalls "Begriffe hypostasiert" und "Prinzipien stipuliert" usw., ohne daß das, was an Adorno als dunkel und zweifelhaft moniert wird, klarer würde und ohne daß die Gedanken Adornos einem Urteil unterzogen würden. Eine Theorie verstehen, ihren Standpunkt "innerviert" zu haben und von ihm aus selbständig argumentieren zu können, ist offenbar etwas ganz anderes, als ihn zu beurteilen. Letzteres verlangt keine Verdoppelung, sondern eine Prüfung der Argumente, eine Aufklärung der Probleme, die der Theoretiker sich stellt, und eine Bestimmung der Zwecke, denen sich seine Anschauungen verdanken.

Dabei wäre eine klare und durchgängige Bestimmung der Intentionen der Kritischen Theorie durchaus am Platze gewesen. So wenig nämlich die dargestellte Weise der intellektuellen Auseinandersetzung mit ihr gerechtfertigt werden kann, so wenig bleiben einem Betrachter der Kritischen Theorie gewisse Schwierigkeiten erspart. Vor allem Adorno macht es seinen Lesern in einer Hinsicht nicht leicht: Er bezieht sich auf a11e philosophischen Traditionen, behauptet von allen, er wolle ihrer wahren, echt philosophischen Intention folgen, und ist doch zugleich keiner Tradition wirklich verpflichtet. Des öfteren kokettiert er geradezu mit dieser Eigenart und scheint sich über den provozierten Versuch einer "Einordnung" lustig zu machen, wenn er mit seinen Lesern quasi das Spiel vom Hasen und vom Igel spielt. Nicht ohne Gründe könnte man ihn für einen Kantianer halten, als der er sich selbst bisweilen hinstellt; alle Welt hält ihn für einen Hegelianer und Marxisten; auch Nietzsche-, Kierkegaard- oder Freud-Schüler könnte er leicht sein. Dann aber erfährt der Leser wieder, daß Adorno nichts von allem ist, aber auch nicht jenseits dieser Tradition stehe... Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs notwendig, die Quellen aufzuspüren, aus denen sich Adornos Denken speist, wie es von Alfred Schmidt und Martin Jay ausführlich unternommen wird. Die Quellen nennt Adorno selber - auch was er ihnen entnommen haben will.

Nicht, daß sich Adorno in der kritischen Nachfolge oben genannter Denker weiß, sondern wie er ihnen nachfolgt, worin er kritisch gegen sie ist und vor allem: wie er die Probleme seiner Autoritäten umformuliert, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Zugleich soll der jeweilige Bezug auf ein Stück philosophischer Tradition dazu dienen, einen Problemkreis innerhalb des Denkens von Adorno darzustellen, so daß Problem und Anliegen seiner Philosophie vermittels seiner Bezugnahme auf die Philosophie vor und neben ihm zutage tritt.

Dieses Ziel - die Bestimmung der von Adorno selbst postulierten Besonderheit seines Denkens - setzen sich auch die jüngeren, nicht vorherrschend politisch, sondern echt philosophisch orientierten Untersuchungen zu Adorno nicht. Soweit diese Schriften nicht von unmittelbaren Anhängern der Frankfurter Schule stammen, die mit Adornos Worten über Adorno sprechen, enthalten sie zwar manchen Hinweis auf unvereinbare Positionen, auf Widersprüche und Aporien 51) - allein handelt es sich zumeist um solche, die Adorno nicht ohne Stolz selbst explizit zu Protokoll gegeben hat. 50) Auch der Nachweis, Adornos Philosophie sei "standpunktlos", und "im strikten Sinne gar (keine) Theorie mit festem Lehrgehalt" 52), kritisiert sie nicht, sondern referiert - alle diese Bestimmungen würden Adornos Zustimmung finden, wenn sie nicht sogar wörtlich in seinem Werk geschrieben stehen. 53)

Eine weitere Art der Kritik erweist ihr Ungenügen, wenn sie sich in negativen Urteilen resümiert: Adorno würde keine echte Gesellschaftstheorie zuwege bringen 54) oder ihm mangle es an politischer Ökonomie. 55) So wird nicht bestimmt, was Adorno behauptet hat, sondern beklagt, was er unterläßt. Adorno war bestimmt nicht der Meinung, etwas versäumt zu haben. Seine theoretische Leistung als Unterlassung zu bestimmen, unterstellt stets einen gemeinsamen Zweck, dessen Verletzung ihm dann - und das ist das Paradox dieser Kritik - vorgerechnet wird.

Einer Übung der akademischen Höflichkeit, die in vielen Veröffentlichungen zu Adorno gepflogen wird, möchte sich die vorliegende Studie nicht anschließen: der selbstkritischen Beteuerung, "eigentlich" sei eine Darstellung der Gedanken Adornos gar nicht gut möglich 56), wobei die Berufung auf die Stelle der Negativen Dialektik nicht zu übersehen ist, an der es heißt:

"Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren läßt, spricht gegen sie." 57)

Der Grund dafür ist denkbar einfach. Eine so zur Schau gestellte Zurückhaltung scheint mir nur eine Formulierung dafür zu sein, daß man mit dem Hinweis auf die bewußte "Unzulänglichkeit" des eigenen "Versuchs" jede eventuelle Kritik für überflüssig erklärt; daß man im Bekenntnis zur "Problematik" des Nachvollzugs der Gedanken Adornos zugleich noch das unmögliche Gelingen des eigenen Vorhabens herausstreicht - eines Vorhabens, von dem man dennoch nicht läßt, ebenso wenig wie sich Adorno gescheut hat, die philosophische Tradition zu "referieren".

Auf eine tatsächliche Beschränkung sei allerdings hingewiesen. Im folgenden geht es um die im engeren Sinne philosophischen Schriften von Adorno, und zwar aufgrund der von Adorno selbst und anderen des öfteren erwähnten - m.E. richtigen - Auffassung, daß die ästhetischen 58) wie die soziologischen Theorien auf die philosophische Konzeption zurückgehen. Das Ziel der Untersuchung besteht dabei zwar in der Charakterisierung der Denkweise der kritischen Theorie und ihres eigentümlichen Interesses, aber ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben.

Anmerkungen - Einleitung

1) Darauf weist auch Willy Hochkeppel hin, der die Entwicklungen und Tendenzen der deutschen Philosophie genauestens verfolgt, insbesondere in bezug auf ihre politischen Implikationen (siehe: Willy Hochkeppel, Die Antworten der Philosophie heute (Hrsg.), München 1967; sowie: ders., Mythos Philosophie, Hamburg 1976.):

"Im Zuge der Kritik und Selbstkritik erscheint die kritische Theorie der Frankfurter Schule ihrer Gehalte weitgehend beraubt..." (Mythos Philosophie, S. 156)

2) Siehe: Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923 - 1950, Frankfurt/Main 1976, S. 2.

Im "Vorwort zur deutschen Ausgabe" meint er:

"Inmitten der Verwirrung und der Desillusionierung im Gefolge des Verfalls der neuen Linken in Amerika und in Großbritannien ist die Kritische Theorie erneut zur Hauptstütze radikaler Hoffnungen geworden, wie zur Zeit ihrer Flucht aus Europa vor mehr als vierzig Jahren. Doch heutzutage ist sie nicht mehr das Reservat eines isolierten esoterischen Zirkels, dessen Stimmen sich im Getöse des orthodoxen Marxismus und des nicht weniger orthodoxen Liberalismus kaum bemerkbar machen konnten. Welchen Einfluß die Arbeit der Frankfurter Schule letztlich auf die angelsächsische Welt ausübt, läßt sich noch immer nicht abschätzen, doch ich glaube, es darf als ausgemacht gelten, daß keine künftige soziale Theorie oder radikale Bewegung, die diesen Namen verdient, es sich leisten kann, den Problemen aus dem Wege zu gehen, welche die Frankfurter Schule in so kritischer Schärfe aufgeworfen hat, auch wenn sie sie in vielen Fällen nicht zu lösen vermochte."

3) Wilhelm Raimund Beyer, Die Sünden der Frankfurter Schule, Ein Beitrag zur Kritik der "Kritischen Theorie", Reihe: Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, Hrsg. von Manfred Buhr, Frankfurt/Main 1971, S. 13.

4) a.a.O., S. 13 f.

5) a.a.O., S. 15

6) a.a.O., S. 20:

"Praxisferne Philosophie mag noch so 'kritisch' vorgehen oder sich im Brustton der Überzeugung 'Kritische Theorie nennen, ohne Praxis-Chance und deren Ausübung als Realisierung dieser bleibt sie für echte Philosophie unwichtig. Da sie selbst reale Praxis nicht zu gestalten vermag, greift sie zu dem Hilfsmittel, die 'Praxis der Kritik' mit allen Mitteln zu forcieren, um Rang und Ansehen zu gewinnen.

7) Kein Wunder, daß Raimund Beyer auch diesen Schluß noch explizit macht, wenn er Adorno und Habermas damit zu treffen meint, daß sie sich einer Partei nicht zur Verfügung stellten, deren Ziele sie gar nicht teilten!

"... Adorno und Habermas (bleiben) in ihrer Darreichung von 'Masken', unter denen sich ungelöste Probleme verstecken statt Lösungen - Individualisten, Metaphysiker der Gesellschaftlichkeit und ihrer Ungeselligkeit. Die Lösung‚ die sie verweigern, kann nicht in Losung umgesetzt werden. Praxisnahe Phi1osophie stellt ihre Lösung der politischen Losung zur Verfügung.", a.a.O., S. 47

Die Erklärung für die "verweigerte Lösung", die mangelnde Fähigkeit, sich in die politische Losung umzusetzen, wird hier schon angedeutet. Sie verweist unmittelbar auf einen konservativen Gedanken, dessen sich der parteioffizielle Marxismus nicht erst in jüngerer Zeit bedient. Die Frankfurter taugten nicht zur Praxis, weil sie Individualisten waren, weil sie nur auf sich Wert legten, ihrem Denken folgten und ihre Zwecke hatten, anstatt sich dem Kollektiv unterzuordnen. Beyer behauptet, da werde

"... individualistisch gedacht. Je unpraktischer eine Theorie auftritt, desto 'praktischer' geht sie vom Standpunkt des Individuums an die philosophischen Probleme heran. Auch wenn sie - angeblich 'standpunktlos' - den Platz eines konservativen oder traditionellen ICH überwindet und dafür den Standpunkt der angeblich standpunktlosen 'Kritischen Theorie' einnimmt. Sie setzt keine gesellschaftliche Praxis in Gang. Soweit das 'zweckrationale Handeln' (???) der 'Kritischen Theorie' von Gruppen vollzogen wird, sind diese Gruppen nichts anderes als additive ICHE (Die Pluralbildung von ICH zu ICHEN fußt auf Husserl) oder das berühmte 'alter ego'. Nie aber ein echtes Kollektiv." (a.a.O., S. 55)

Der bildungsspießige Anhänger eines Staatssozialismus hält fest am Gegensatz von Individuum und Gesellschaft und stellt sich die Harmonisierung des Verhältnisses so vor, daß das Kollektiv als Invariante vom Individuum als dem Variablen verlangt, seinen aufgeklärten 'homo mensura'-Standpunkt aufzugeben.

8) Die Versuche zu einem solchen Appell sind zahlreich; praktisch die gesamte Publikationsarbeit der "Neue(n) Kritik", der theoretischen Zeitschrift des damaligen SDS Frankfurt war in den Jahren 1968-1970 diesem Thema gewidmet. Besonders hingewiesen sei hier auf H. J. Krahl, der in seiner Kritik an Adorno immer um Verständnis für die besondere Lage des älteren Lehrers bemüht war:

"Die Erfahrung des Faschismus scheint der Kritischen Theorie und Adorno suggeriert zu haben, daß kollektive Praxis notwendig bewußtseinsdestruktiv ist, daß sich in kollektiver Praxis geradezu die Klasse zur Masse zersetzt, in diesem naturzuständlichen Sinne, den der Begriff auch hat."

H. J. Krahl, Kritische Theorie und Praxis, in: Konstitution und Klassenkampf, Zur historischen Dialektik von Bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 1966-1970, Frankfurt/Main 1971, S. 294.

9) Jürgen Ritsert und Claus Rolshausen schicken ihrer Kritik eine explizite Loyalitätserklärung voraus:

"Wir kritisieren eine Variante der Kritischen Theorie in einer Weise, wie sie von deren Vertretern mit Erfolg z.B. gegenüber funktionalistischen und systemtheoretischen Ansätzen selbst geltend gemacht wurde, für die eine konservative Parteinahme charakteristisch ist."

Jürgen Ritsert und Claus Rolshausen, Der Konservatismus der Kritischen Theorie, Frankfurt/Main 1971, S. 9.

Erst auf diesem Boden wird der Vorwurf an Adorno formuliert:

"Theodor W. Adorno nimmt das Moment der Veränderung resignativ in die Theorie zurück." a.a.O., S. 101.

Siehe auch: Detlev Claussen, Zum emanzipativen Gehalt der materialistischen Dialektik in Horkheimers Konzeption der Kritischen Theorie, in: Neue Kritik, Nr. 55/56, 10. Jahrgang 1970, SS. 45-66: Er macht sich den in der Frankfurter Schule verbreiteten Irrealis des Wunschdenkens zu eigen, um an die Altvorderen der Schule zu appellieren:

"Diese Kritik wäre aber bloße Ideologiekritik, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft werden kann:

Denn sonst verwandeln sich die aus bestimmter Negation der herrschenden Wirklichkeit entstandenen Kategorien in bloße Vorstellungen des 'Anderen', das in der späten Theorie von Horkheimer und Adorno so unspezifisch nur noch angedeutet wird." a.a.O., S. 63.

10) Manfred Clemenz, Theorie als Praxis? Zur Philosophie und Soziologie Theodor W. Adornos, in: Kritik und Interpretation der Kritischen Theorie, Raubdruck-Aufsätze, T. W. A. Reprint- Edition, Cuba-Lichtenstein 1970, S. 24-40; S. 39.

11) H. J. Krahl, Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos in: ders., Konstitution und Klassenkampf, S. 286.

12) Daß es für Adorno den von seinen Schülern ersehnten Widerspruch zwischen seiner Theorie und seiner Praxis nicht gab, ist kein Argument für das eine oder das andere, ich zeichne die Kritische Theorie keineswegs in rosigem Licht, vielmehr bin ich mir sicher, daß Hunger und Napalm für sie als Philosophen kein Grund waren, praktisch einzugreifen, sondern umgekehrt zum Argument dafür wurden, um so mehr Philosophie zu betreiben. Aber uni all das gebt es hier nicht. Es ist mir nur darum zu tun nachzuweisen, daß sich die Vorwürfe gegen Adorno einer Unkenntnis, ja viel mehr noch einer politischen Nutzbarmachung einer Theorie verdanken, der sich diese Theorie selbst nie verschrieben hat,

13) Siehe T.W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Stichworte, kritische Modelle 2, Frankfurt/Main 1969 - in denen er sich nur noch höhnisch und psychologisierend mit der Politik der eigenen "Schüler" beschäftigt.

14) H. J. Krahl, Kritische Theorie und Praxis, a.a.O., S. 294,

15) Manfred Clemenz, a.a.O., S. 58.

16) Auch der Vertreter des offiziellen Marxismus stimmt in die Forderung nach aufbauender Kritik ein:

"Progressive Kritik zerstört ebenfalls, mindestens die falschen Vorstellungen überlebter Klassen, bleibt aber gerade deshalb und trotzdem aufbauend." W. Raimund Beyer, a.a.O., S. 21.

Wer sich nicht dazu bequemt, ist ein "Kritikaster ...‚ Querulant, Nörgler oder dergleichen" (S. 36), eben ein "Beckmesser" (S. 67).

17) Gerd Klaus Kaltenbrunner, Der Denker Herbert Marcuse, Revolutionärer Eros; in: Kritik und Interpretation der Kritischen Theorie, S. 156.

Gleiches schreibt der Mitautor des Artikels 'Der Denker Herbert Marcuse' und Verfasser des Teils II, 'Philosophie der Weigerung ‚ Manfred Riedel. Er kritisiert Begriff und Politik der 'Weigerung', weil sie bloß negativ und individuell sei, statt sittlich.

"Denn nach dem Modell, das seine Theorie von der eindimensionalen Realität der fortgeschrittenen Industriegesellschaft entwirft, steht zwischen dem sozialen Zusammenhang und der geschichtsphilosophischen Sinndeutung das ebenso mächtige wie anonyme 'System', welches das praktische Handeln der Allgemeinheit beraubt. Genau dies ist aber das Merkmal jenes Alternativbegriffs der 'Großen Weigerung', den Marcuse in die politische Diskussion eingeführt hat: gesellschaftlich partikulär und eine Sache von Einzelnen zu sein. Mit diesem Begriff gesteht die kritische Theorie ihre Unfähigkeit ein, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen." (S. 162)

18) "Den hier anklingenden Kontext von Utopie und Terror würde Marcuse selbst kaum in Abrede stellen."

"Es bleibt die Frage ... was aus solchen Ideen wird, wenn sie, einmal zum Jargon geworden, als Instrumente des politischen Kampfes fungieren. ... Marcuses Theorie ist der damit angesprochenen Problematik um so weniger enthoben, als sie von vornherein jede bestehende Gesellschaftsordnung nur (!) im Hinblick auf deren Negation betrachtet und insofern in einem ausgezeichneten Sinne politisch und politisierbar ist."

Kaltenbrunner, a.a.O., S. 157.

19) In seiner Kritik an der Erkenntnistheorie Kants weist Hegel auf die Unvermeidlichkeit der Verlegenheit hin, die aus der falschen Problemstellung entsteht. Die Erkenntnistheorie will die Tauglichkeit des Denkens zur Erfassung der Realität prüfen, als ob es noch einen archimedischen Punkt, eine Sicherheit über die Natur der Dinge jenseits des Denkens gäbe:

"Es ist als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte."

"Das Erkennen wird vorgestellt als ein Instrument, die Art und Weise, wie wir uns der Wahrheit bemächtigen wollen, ehe man also an die Wahrheit selbst gehen könne, müsse man zuerst die Natur, die Art des Instruments erkennen. Es ist tätig; man müsse sehen, ob dies fähig sei, das zu leisten, was gefordert wird - den Gegenstand zu packen; man muß wissen, was es an dem Gegenstand verändert, um diese Änderungen nicht mit den Bestimmungen des Gegenstandes zu verwechseln."

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Leipzig (Reclam) 1971, S. 486.

Wegen dieser Problemstellung, die das Denken vom Denken trennt und es als Vorbedingung für sich selbst behauptet, kommt die Frage nach den erkenntnistheoretischen Prinzipien einerseits überhaupt nicht zu einer bestimmten Angabe der Bedingungen objektiven Denkens - und wenn doch, dann nicht auf wissenschaftliche Weise.

"Man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist - nicht zu sich kommen, weil es bei sich ist." (a.a.O.)

"Vor der Wissenschaft aber schon über das Erkennen ins Reine kommen wollen, heißt verlangen, daß es außerha1b derselben erörtert werden sollte; außerha1b der Wissenschaft läßt sich dies wenigstens nicht auf wissenschaftliche Weise bewerkstelligen."

ders., Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Hamburg (Philosophische Bibliothek) 1967, S. 52 f.

Auch in der modernen erkenntnistheoretischen und methodologischen Diskussion ist diese Erkenntnis nicht verloren. Nicht nur Hans Alberts bekanntes "Münchhausen-Trilemma" verweist auf den endlosen Regreß, in den eine "Begründung" der Möglichkeit von Erkenntnis gerät, auch die Vertreter der Erlanger Schule des Konstruktivismus haben in Anschluß an Kamlah und Lorenzen in der Kritik der 'Ordinary Language Philosophy' und des Logischen Empirismus die Zirkelhaftigkeit aller theoretischer Theoriegrundlegung nachgewiesen - freilich sind sie nicht bis zu einer Kritik der Fragestellung der Methodologie vorgedrungen, sondern bemerkten die Schwächen derselben nur, um eine untheoretische - eine praktische - Grundlegung der Theorie vorzuschlagen; damit aber verfallen sie Hegels Kritik, die Wissenschaft unwissenschaftlich bestimmen zu wollen.

Siehe dazu: Kuno Lorenz, Elemente der Sprachkritik, Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der analytischen Philosophie, Ff./M. 1970, Teil 1, besonders S. 60 ff. und 142 ff.

Sowie Jürgen Mittelstraß, Erfahrung und Begründung, in: ders., Die Möglichkeit von Wissenschaft, Ff./M. 1974, S. 56-62.

20) Hochkeppel "berichtet" vom Vorwurf der Unklarheit:

"Allmählich fand sich die Kritische Theorie auch von theoretischer Seite einer scharfen Kritik ihrer Axiome ausgesetzt, die mit dem Positivismus-Streit begann. Denn die Normen und Wertmaßstäbe der kritischen Theorie sowie ihre latente Anthropologie werden unbefragt vorausgesetzt und bleiben mangels expliziter ethisch-philosophischer Überlegungen vage und vieldeutig." a.a.O., S. 132

21) Hans Albert, Der Mythos der totalen Vernunft, in: Th. W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969, S. 198 f.

22) So ist sich Albert durchaus im klaren über den angeblich so dunklen Frankfurter Begriff der Totalität. Er gibt selbst an, daß dieser Begriff keinen anderen Inhalt habe als der Systembegriff der Systemtheoretiker, der von den Frankfurtern problematisiert wurde, allerdings mit dem Zusatz versehen sei, er sei 'nicht äußerlich, übergestülpt', ohne daß diese negative Bestimmung zu irgendeiner anderen positiven Qualität dieser Begriffsbestimmung führen würde. Anstatt nun aber den Schluß zu ziehen ‚ daß die Differenz ein bloßes Postulat, ein Sollen ist, fällt er zurück auf die längst festgestellte "Nicht-Explizierbarkeit", um dann den ganzen Gedanken nur mehr als Auftakt für einen gänzlich anderen zu verwenden, der mit dem vorhergehenden nur die angenommenen argumentationstaktischen Ansichten der anderen Seite gemein hat:

"Dem Leser wird der Gedanke nahegelegt, daß diese Art von Theorie dagegen notwendig und innerlich mit der Realität übereinstimme und daher keiner faktischen Prüfung bedürfe." a.a.0., S. 200.

Damit ist Albert wieder bei einer negativen Bestimmung, einer Unterlassungssünde der Frankfurter Schule gegenüber den Maßstäben des kritischen Rationalismus angelangt.

23) a.a.O.

23 a) Die Wissenschaftstheorie hat sich stets bei ihrer Anleitung zu diesem "Vergleich" eine Unmenge von Problemen (Basissätze, Protokollsätze, Begriff der Erfahrung etc.) eingehandelt.

23 b) Diese Behauptung, daß die empirische Überprüfung nicht über die Wahrheit und Unwahrheit einer Theorie entscheiden könne, wird in der heutigen Wissenschaftstheorie fast einhellig abgelehnt. Deshalb sei auf die philosophische Tradition verwiesen, in der von Hegel schon alle nötigen Argumente beigebracht wurden. Er erklärte, daß das Bedürfnis nach empirischer Überprüfung einer Trennung in objektive Fakten und nur subjektives Denken entspringt, dem dann aber die Fakten auch keine objektive Geltung mehr verschaffen können.

"Wenn zur Objektivität die äußerliche, in Zeit und Raum bestimmte Anschauung gefordert (wird) und sie es ist, welche vermißt wird, so sieht man wohl, daß unter Objektivität nur diejenige sinnliche Realität gemeint ist, über welche sich erhoben zu haben, Bedingung des Denkens und der Wahrheit ist."

G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II, Hamburg (Philosophische Bibliothek) 1969, S. 433.

Diese Forderung an die Wissenschaft besteht im Grunde im Festhalten der unerkannten Realität gegen Schlüsse und damit gegen Erklärung:

"Der Hauptsinn der Kritik dieses Ganges ist, daß derselbe ein Schließen, ein Übergang ist. Indem nämlich die Wahrnehmungen und deren Aggregat, die Welt, an ihnen als solchen nicht die Allgemeinheit zeigen, zu welcher das Denken jenen Inhalt reinigt, so werde hiemit diese Allgemeinheit nicht durch jene empirische Weltvorstellung berechtigt."

Es handelt sich um einen "Standpunkt, der es für unzulässig erklärt, die Wahrnehmungen zu denken, d.i. das Allgemeine und Notwendige aus denselben herauszuheben." ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg (Philosophische Bibliothek) 1969, § 50, S. 14.

(Daß diese Stelle Hegels Metakritik an Kants Kritik des physikotheologischen Gottesbeweises entnommen ist, beschränkt ihre Aussagekraft nicht. Denn der Fehler des Gottesbeweises liegt in der Qualität der Argumente und Schlüsse, die Hegel wohl bemerkte, nicht in dem Umstand, daß geschlossen wurde, wie Kant meinte.)

24) In seinem "Kleinen verwunderten Nachwort zu einer großen Einleitung", in dem Hans Albert von seiner Sicht aus das Resümee des Positivismusstreits zog, wies er auf diesen einen Punkt hin, an dem die Kritische Theorie ins Wanken kam:

"Ich bin mir nicht ganz klar darüber, inwieweit die Frankfurter Schule in diesem Punkt noch eine einheitliche Auffassung vertritt. Möglicherweise wird manchen Vertretern dieses Denkens die fahrlässige Polemik gegen Logik, Widerspruchsfreiheit, deduktives und systematisches Denken, die in letzter Zeit in weiten Bereichen Schule gemacht hat, allmählich eher peinlich sein." Albert, in: Positivismusstreit, S. 339.

25) Willy Hochkeppel, Dialektik als Mystik, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner, (Hrsg.) Hegel und die Folgen, Freiburg 1970, S. 73.

26) a.a.O., S. 91f.

27) Popper interpretiert die Dialektik zunächst wohlmeinend als das, was er selbst der Wissenschaft vorschlägt, trial and error, um dieser zurechtgelegten Dialektik dann vorzuwerfen, daß sie ihre Vertreter anders formulieren würden als er - nämlich "unklar und metaphorisch". Daraus zieht er den versöhnlichen Schluß:

"Am besten wäre es vielleicht, wir würden ihn (den Ausdruck 'dialektisch', der Verf.) überhaupt nicht verwenden - wir könnten in jedem Falle die klare Terminologie der trial-and-Error-Methode verwenden."

Karl Popper, Was ist Dialektik, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1972, S. 274.

Seinem wirklich harten Vorwurf an Hegel, er habe das Denken von der Verpflichtung darauf, sich nicht selbst aufzuheben, entbinden wollen, beweist Popper schon philologisch denkbar schlecht. Er hält sich nicht an das, was bei Hegel in der 'Logik' Dialektik heißt, sondern unterstellt von vornherein Hegel einen taktischen Zweck bei seiner Argumentation, er wolle die Dialektik etablieren, und zwar gegen den Widerstand derer, die Widersprüche noch zu erkennen vermochten:

"... um die Dialektik zu einem wichtigen, wenn nicht zu dem wichtigsten Teil (!) der Theorie der Logik zu machen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, das 'Gesetz vom Widerspruch' zu beseitigen, das offensichtlich ein ernsthaftes Hindernis auf dem Wege zur Akzeptierung der Dialektik darstellte."

Das hat Hegel allerdings nie getan, er forderte vielmehr, man müsse Widersprüche auflösen, anstatt sie per definitionem zu ignorieren; Popper findet deshalb auch nur ein ganz unpassendes Zitat als Beleg:

"Ich habe diese Ansicht der Dialektik bereits kritisiert, und ich möchte lediglich wiederholen, daß jede Art logischen Schließens, ob vor oder nach Hegel, ob auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder der Mathematik oder einer wirklich rationalen Philosophie, stets auf das Gesetz vom Widerspruch gegründet ist. Aber (!) Hegel schreibt ... 'Das Dialektische gehörig aufzufassen und zu erkennen, ist von höchster Wichtigkeit. Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens und aller Bethätigung in der Wirklichkeit. Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens.'"

a.a.O., S. 279 f.

Das Hegel-Zitat besagt nur, daß Hegel die Dialektik offenbar für sehr wichtig hielt, Bestimmungen derselben gibt es nicht. Poppers "aber", der Gegensatz zu seinem Bestehen auf dem Satz vom Widerspruch, findet sich nirgends.

28) Siehe a.a.O., S. 281f., wo Popper Hegels inhaltliche Identität - das Denken weiß die Bestimmungen der Sache - auf Spiegelung herunterbringt und sich daraufhin zurecht wundert, wieso sich im Hirn die Welt - "geistgleich" - abbilden solle.

29) a.a.O., S. 288.

30) Werner Becker, Die Achillesferse des Marxismus: der Widerspruch von Kapital und Arbeit, Hamburg 1974, S. 137.

31) a.a.O., S. 7.

32) Willy Hochkeppel, Mythos Philosophie, a.a.O., S. 128.

Er findet in der Kritischen Theorie ein hervorragendes Beispiel für seine Behauptung, das philosophische Denken solle keinen Anspruch auf praktische Wirksamkeit erheben. Der Streit zwischen den politischen Schülern und ihren philosophischen Lehrern hindert ihn einerseits nicht, die Politik, die er allgemein für verurteilenswert hält, den Lehrern anzulasten, und bietet ihm andererseits gerade in der Distanzierung der Lehrer den Beweis, daß der Versuch, praktisch zu werden, enttäuschen muß.

"Was an praktischer Philosophie, an 'eingreifendem Denken', wie Brecht das einmal nannte, jüngst wirksam geworden ist, das war allerdings in einem bestimmten Maße die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Deren Initiatoren haben aber dann mit ansehen müssen, wie ihre kritischen Intentionen in bare Aktionen transferiert wurden, Aktionen, die vielfach auch ohne alle Theorie hätten in Szene gesetzt werden können. Meist waren die kritischen Philosophen verängstigt und verärgert, wenn die Handlungsanweisungen, die in ihren Lehren steckten, beim Wort genommen wurden. Sie sprachen dann vom blinden Aktionismus. Jedenfalls, so behaupten sie, sei die Vermittlung von Theorie und Praxis weitaus differenzierter, und das, was man vorgeführt bekomme, sei auf alle Fälle die falsche Praxis."

a.a.O., S. 131.

33) a.a.O., S. 133.

34) 'Philosophie als Aufklärung' lautet der Titel eines Beitrags von Hermann Lübbe in: Manfred Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1, Freiburg 1972, S. 243-268.

35) a.a.O., S. 247.

36) a.a.O.

37) a.a.O., S. 259.

38) Siehe a.a.O., S. 249 f.

39) a.a.O., S. 250.

40) a.a.O., S. 253.

41) a.a.O., S. 255.

42) a.a.O., S. 256.

43) Hans Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg 1972, S. 377.

44) a.a.O., S. 382.

4S) a.a.O. ‚ S. 38S.

Erhellend ist an dieser Stelle noch die Beleidigtheit eines Liberalen, der sich offenbar nicht auf den von, ihm angesprochenen Sachstreit: Reform oder Revolution, einlassen will und daher beim Gegner nur Ablehnung dessen findet, was er schätzt - was ihm wiederum genug der Kritik zu scheint.

"Diese totale Kritik legt die Konsequenz nahe, daß durch einzelne Reformen keine wesentlichen Änderungen herbeigeführt werden können, so daß man berechtigt sei, die Methoden, die von liberalen Reformern vorgeschlagen werden, als unwirksam zurückzuweisen."

a.a.O.

46) Alle Hermeneutik-Definitionen kehren dieses Moment von Parteilichkeit sowie diese Kettung neuer Erkenntnisse an das, was man schon vorher weiß und vor allem gewürdigt hat, hervor. Aber nicht nur die Wissenschaft, auch die Bildungssprache hat sich diese Gleichsetzung von Verstehen und Billigen schon angeeignet. So wird in den Lehrplänen für den Sozialkundeunterricht als Bildungsziel festgehalten, Verständnis zu wecken für allerlei staatliche "Notwendigkeiten" ‚ auch für die einer Armee etc., was man nicht mit unparteiischer Aufklärung über die Gründe, Mittel, und Zwecke der hohen Politik verwechseln darf. Denn umgekehrt wird Gegnern dieser Notwendigkeiten, denen man niemals Unkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten vorwerfen würde, weil sie offensichtlich zu gut im Bilde sind, vorgehalten, sie hätten kein Verständnis demokratischer Verfahren. Z. B. Werner Becker gegen Marx: Die Achillesferse des Marxismus, Hamburg 1974, S. 137.

47) Jürgen Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, sowie ders., Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, beides in: Th. W. Adorno u.a., Der Positivsmusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969.

48) Hermann Schweppenhäuser, Verleumdete Aufklärung, unter dem Titel: Thomas Härtings Adorno-Kritik. Eine Replik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 21, Heft 4, 1967.

49) Alfred Schmidt, Adorno - Ein Philosoph des realen Humanismus, in: Neue Rundschau, Ff./M. 1969, 80. Jg., Heft 4. und Ulrich Sonnemann, Jenseits von Ruhe und Unruhe. Zur Negativen Dialektik Adornos, in: Über Th. W. Adorno, Ff./M. 1968.

50) Siehe Adorno über sein Denken:

"Die Norm (der logischen Schlüssigkeit, der Verf.) ist nicht länger verbindlich. Nach ihrem Maß wäre der dialektische Sachverhalt der simple logische Widerspruch." Negative Dialektik, Ff./M. 1966, S. 142 f. (Im folgenden zitiert als ND)

Auch Holtkamp verweist auf diesen Umstand. Allerdings sieht er darin weniger ein Zeichen dafür, daß die Feststellung von Widersprüchen zur Kritik Adornos nicht hinlangt, als eine Schwierigkeit für den Interpreten.

"Eine besondere Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit Adorno liegt bei Adorno selbst: es gibt kaum einen Satz im Zusammenhang seiner Philosophie, der nicht 'widerlegbar' wäre durch einen inhaltlich widersprechenden, den man ebenso bei Adorno finden kann. Will man sich daher überhaupt mit Adorno beschäftigen, so bleibt nichts übrig, als einen 'Schnitt' zu machen an einer theoretisch zentralen Stelle und zu fragen, welche Sätze denn aus dem Ganzen seiner Theorie und ihren Voraussetzungen heraus theoretisch legitimierbar sind."

Rolf Holtkamp, Wissenschaftstheorie zwischen gesellschaftlicher Totalität und Einzelwissenschaft. Theoretische und theoriegeschichtliche Voraussetzungen von Adornos Kritik des Szientismus; Lollar 1977. S. II.

51) Lothar Düver, Theodor W. Adorno, Der Wissenschaftsbegriff der Kritischen Theorie in seinem Werk, Bonn 1978, (Dissertation Universität Münster), S. 11.

52) a.a.O.

53) Siehe auch bei Otwin Massing:

"Die jederzeit in Rechnung zu stellende Antizipation kritischer Einwände gegen die eigenen Positionen, die Adorno an anderen Stellen seines Werkes längst schon und in besserer Formulierung vorgebracht haben mag, die Gewißheit, daß er die Metakritik seiner erkenntnistheoretischen Prämissen bereits vorweggenommen hat, verhindert eine forsch-unbefangene Diskussion ebenso, wie sie im Ernstfall dazu angetan ist, die Bereitschaft zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihm überhaupt zu lähmen."

Otwin Massing, Adorno und die Folgen, Neuwied/Berlin 1970, S. 9.

54) Auch die in vielem treffende Arbeit von Christel Beier enthält das Musterbeispiel dieser 'Negativ-Kritik', die immer feststellt, was eine Theorie nicht leistet. Z. B.:

"Die bisherige Diskussion hat ergeben, daß sich in der Totalitätskategorie Adornos philosophische Motive mit materialen Annahmen über die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft in einer Weise verschränken, die es unmög1ich macht‚ Gesellschaft zum Gegenstand einer Wissenschaft werden zu lassen."

Christel Beier, Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie. Untersuchungen zum Totalitätsbegriff in der kritischen Theorie Adornos; Ff./M. 1977, S. 92.

55) Vgl. bei Massing:

"Der Mangel an ausgeführter politischer Ökonomie ist dafür symptomatisch."

Massing, a.a.O., S. 43.

56) Mit diesen Bedenken werden eingeleitet:

Massing, a.a.O., S. 9.

Hans-Hartmut Kappner, Adornos Reflexion über den Zerfall des bürgerlichen Individuums; in H. L. Arnold (Hrsg.) Theodor W. Adorno, Sonderheft von 'Text und Kritik', München 1977. S. 45.

Wulff Rehfus, Theodor W. Adorno. Die Rekonstruktion der Wahrheit aus der Ästhetik, Dissertation an der Universität Köln 1976, S. 10.

57) Adorno, ND, S. 42.

58) Siehe auch Holtkamp, a.a.O., S. 1.

"Die Kunsttheorie hat für Adorno die systematische Bedeutung als kontrastives, 'positives' Element der Verfahrensweise von 'Subjekt' dem Gegenstand gegenüber die Möglichkeit einer nicht auf partikularer Rationalität basierenden Beziehung zum Objekt zu demonstrieren. Gerade als solche aber ist sie - will man nicht im einzelnen, also mit ganz anderem Interesse untersuchen, inwiefern Adornos Kunsttheorie denn eine soziologische Theorie der Kunst ist - theoretisch-systematisch nur von sekundärer Bedeutung..."